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Enea, mutig und Tapfer

Vor vielen hundert Jahren lebten auf einer Burg Fulke und Zenz, sie waren reich und besassen viele Güter. Zur Familie gehörten Hale, Noam und Wisan. Eines Tages aber überfielen Feinde das Land; sie kamen auch in das Schloss und plünderten es. So verlor die Familie alles was sie hatten und Fulke musste jeden Tag mit dem Pferde in den Wald hineinreiten, um ein Wild aufzuspüren, das erlegt werden konnte, damit die Familie nicht hungerte.

 

Als Fulke eines Morgens tiefer in den Wald hineinritt, gelang Fulke an eine Stelle, an der noch kein Mensch gewesen war. Auf einmal kam ein furchtbarer Bär und drohte Fulke zu zerreissen. Da nahm Fulke den Bogen und wollte auf den Bären anlegen. Doch der fing plötzlich zu sprechen an: «Schiesse nicht, sonst bist du des Todes. Denn ich bin ein verwünschter Mensch, heisse Yuki und muss immer vier Tage ein Bär und drei Tage ein Mensch sein, so lange, bis sich jemand findet, der mich erlöst. Ich weiss, dass du zuhause drei Kinder hast. Wenn du mir nicht das Älteste gibst, so muss ich dich in Stücke reissen.» Fulke wusste keinen Ausweg und versprach dem Bären das älteste Kind Hale. Der Bär aber sagte: «In vier Tagen bin ich wieder ein Mensch, dann werde ich mit meinem Gefolge kommen und mir Hale holen.» Nach diesen Worten verschwand der Bär. Fulke ritt traurig nach Hause und erzählte Zenz kein Wort von dem, was im Walde geschehen war. Am vierten Tage aber, in aller Morgenfrühe, sah man Yuki mit vielen Kutschen, Pferden und Bediensteten auf das Schloss zukommen und Zenz fragte Fulke, was dieser Besuch zu bedeuten habe. Da musste Fulke gestehen, was im Walde geschehen war. Dass es aber ein Bär war, dem Fulke Hale versprochen hatte, erwähnte Fulke nicht.

 

«Was sollen wir so vielen vornehmen Besuchenden vorsetzen», sagte Zenz besorgt, «denn wir haben selbst am Nötigsten Mangel.» Aber Yuki und das Gefolge waren schon bis vor die Burg gekommen und so musste Fulke entgegengehen und die Besuchenden begrüssen. «Seid willkommen Yuki», sagte Fulke, «doch ich muss um Vergebung bitten, dass wir für so viel Besuch nicht gerüstet sind.» «Macht euch keine Sorge», erwiderte Yuki, «es ist alles schon wohlgeordnet.» Dann befahl Yuki sogleich seinen Bediensteten, alles aufs Beste für das Fest zu rüsten. Fulke rief nun Hale, das älteste Kind und stellte Yuki vor. Yuki war so schön und prächtig anzusehen, wie selten ein Mensch und Hale war über die Massen glücklich. Und so wurde ein grosses Fest gefeiert. Es war ein herrliches Fest und es dauerte zwei Tage und zwei Nächte hindurch. Als aber der zweite Tag vorüber war, sagte Yuki zu Fulke: «Es ist Zeit, dass wir aufbrechen, denn es naht die verwünschte Stunde.» Dann nahm Fulke mit Hale Abschied und sie zogen fort. Hale aber hatte Fulke reichlich Gold und Silber zurückgelassen, damit ihnen an nichts mehr mangle.

 

Als nun das Paar in seinem Schloss im Walde angekommen war, da erzählte Yuki Hale alles, was Fulke verschwiegen hatte und verschwand dann für vier Tage, als ein wilder Bär im Walde. So lebten sie viele Jahre und bekamen zwei Kinder, die waren so schön wie Menschen, solange Hale Menschengestalt hatte, sobald Hale verwandelt war, waren auch die Kinder zwei kleine Bären und sie mussten es so lange bleiben wie Hale.

 

Inzwischen aber waren die Geschenke von Hale in der Burg aufgezehrt worden und Fulke musste wieder mit Bogen, Pfeil und Speer in den Wald hinaus. Als Fulke eines Tages die Fährte eines Hirsches bis tief in unbekannte Gegenden verfolgte, erklang auf einmal ein Brausen und Flügelschlagen in der Luft und auf Fulke flog ein Adler zu. Dieser stiess herab, aber als Fulke nach dem Speer griff, rief der Adler zornig: «Halt ein, sonst musst du eines grausamen Todes sterben.» Fulke erschrak, weil der Adler sprechen konnte und wollte sich verbergen. «Steh still», schrie der Adler, «sonst ist dein Leben vertan. Du hast Hale dein ältestes Kind gegeben. Wenn du mir nun das zweite Kind nicht gibst, so muss ich dich zerfleischen und du wirst deine Familie nicht wiedersehen.» Da Fulke nicht wusste, wie sich vor den Fängen des Adlers zu retten war, versprach Fulke in der Not, dem Adler Noam zu geben. «Ich bin verwünscht, wie Yuki», sagte der Adler, und darf in jedem Monat nur eine Woche meine rechte Gestalt als Jascha annehmen, die übrige Zeit muss ich als Adler im Gebirge hausen. Aber die nächste Woche werde ich mit meinem ganzen Gefolge kommen und Noam holen.»

 

Wieder ging Fulke traurig nach Hause. Dort erzählte Fulke Zenz nur, dass Jascha gekommen ist, um Noam anzuhalten.

 

Als der Tag kam, erschien Jascha mit noch prächtigerem Gefolge als Hale und war noch schöner und prächtiger anzusehen. So waren Jascha und Noam glücklich und das Fest dauerte diesmal eine ganze Woche lang, Tag und Nacht. Als aber der letzte Tag vergangen war, da verabschiedeten sie sich und zogen fort. Nur Fulke wusste, dass es auf Nimmerwiedersehen war, so lange bis Hale und Jascha erlöst waren.

 

Auch Jascha hatte reichlich Gut und Geld zurückgelassen, aber eines Tages war es wiederum aufgezehrt und Fulke musste Bogen und Speer von der Wand nehmen und zur Jagd hinaus in den Wald gehen. Doch kein Wild liess sich blicken, solange Fulke auch im Walde herumstreifte. Da erschien plötzlich ein kleiner See mitten auf einer Wiese und Fulke liess sich erschöpft und müde am Ufer nieder. Im Wasser schwammen Fische aller Art und weil hungrig, wollte Fulke ein paar Fangen und über dem Feuer braten. Auf einmal aber schwamm ein riesiger Fisch auf Fulke zu, der war grösser, als ein Delfin oder Haifisch es je sein wird. Sogleich schnappte er nach Fulke und wollte zurück ins Wasser. Fulke aber setzte sich zur Wehr. Da sprach der Fisch: «Dein jüngstes Kind will ich haben; gibst du mir es nicht, so wirst du elend ertrinken.» Fulke musste nun auch das jüngste Kind, Wisan, versprechen. «Ich bin Bao und verwünscht wie Hale und Jascha», sagte der Fisch dann. «nur einmal im Jahr darf ich einen ganzen Monat wieder zu einem Menschen werden. Dann komme ich Wisan holen.»

Fulke ging nach Hause, noch trauriger als die beiden anderen Male und erzählte Zenz: «Ich habe einen noch schöneren und prächtigeren Menschen getroffen und diesem habe ich Wisan versprochen.» Von der Verwünschung erzählte Fulke nichts.

 

Als nun die Zeit kam, wo der Fisch zu einem Menschen werden durfte, zog Bao mit dem ganzen Hofstaat und allen Bediensteten zur Burg von Fulke und Zenz, um Wisan zu holen. Als sie dort ankamen, spielten die Musizierenden und alle zogen durch das Tor. Bao gefiel sogleich Wisan, wie kein anderer Mensch und so wurde zum dritten Mal gefeiert, viele, viele Tage lang. Aber der Abend kam, an dem auch Bao fort musste und so nahmen Bao und Wisan Abschied und zogen dem Schlosse zu.

 

Viele traurige Wochen vergingen für Fulke und Zenz. Zenz sorgte sich sehr und verstand nicht, warum keines der Kinder sie jemals besuchte. Zenz wusste auch nicht, was den Kindern widerfahren war. Aber nach einem Jahr bekamen Fulke und Zenz noch ein Kind und nannten es Enea. Als Enea älter geworden war, wurden alle kämpferischen Sitten erzogen und Enea musste sich in allen Waffen üben. Enea spürte, dass noch ein harter Kampf zu führen war und übte fleissig. Am achtzehnten Geburtstag fragte Enea Fulke und Zenz, wie so oft: «Habe ich denn keine Geschwister?» Da fing Zenz an, bitterlich zu weinen, denn Fulke hatte gesagt: Wir sehen Hale, Noam und Wisan nicht wieder, bis sie erlöst sind. Ich glaube aber, dass du allein, Enea, sie erlösen kannst. Dann führst du unsere Kinder zurück in unsere Burg.»

Als alles erzählt war, rief Enea: «Gebt mir gleich eine Rüstung und Waffen. Heute noch gehe ich in den Wald und suche so lange, bis ich Hale, Noam und Wisan gefunden habe.» Dann nahm Enea Abschied von Fulke und Zenz und machte sich auf den Weg.

 

Bald erschien ein grosser Wald und ohne Zögern ging Enea hinein, immer weiter und weiter. Auf einmal erklangen ein Sprechen und Brummen und als Enea dem seltsamen Geräusch nachging, wurde der Wald lichter und auf einmal erschien ein Schloss. Da erblickte Enea einen Menschen mit zwei kleinen Bären. Sie spielten miteinander und Enea sah ihnen zu. Auf einmal sah Hale auf und rief Enea zu: «Komm doch näher!» Obwohl noch nie gesehen, wusste Hale sogleich, dass dies Enea war, denn im Gesicht zeichneten sich die Züge von Fulke und Zenz ab. Hale umarmte Enea und sprach: «Fürchte dich nicht, denn du bist gewiss Enea und ich bin Hale, dein Geschwister.» Dann erzählte Hale die ganze Geschichte mit Yuki und auch alles was Noam und Wisan begegnet war und sagte zu Enea: «Diese wohnen noch tiefer im Walde drinnen. Wisan wohnt in einem Schloss im See, denn Bao ist in einen Fisch verwandelt. Noam aber lebt mit einem Adler, Jascha, und wohnt gar nicht weit von hier.» Die beiden kleinen Bären standen dabei und hörten alles mit an. Auf einmal knackte es im Gezweige und ein riesiger Bär kam aus dem Walde getrottet: Das war Yuki. «Ich habe soeben von den Spatzen gehört», so sprach Yuki, «dass du kommen würdest, um uns zu befreien. Jetzt will ich dir auch sagen, wie du es anstellen musst: Viele Meilen von hier im Walde, wirst du ein Schloss finden, das ist ganz in Gold und Silber beschlagen. Vor seiner Türe hängt ein goldenes Schloss, das wird mit einem goldenen Schlüssel aufgeschlossen. Wenn du vor dem Tore stehst, wird sogleich ein grosser, scheusslicher Drache mit sieben Köpfen auf dich zukommen. Den musst du besiegen und töten, denn er allein besitzt den goldenen Schlüssel, mit dem das Tor zu öffnen ist. Jetzt will ich mit dir zu Noam und Wisan gehen. Jascha und Bao werden dir sagen können, wie du den Drachen töten kannst.»

 

Als sie vor das Schloss von Noam und Jascha kamen, sahen sie Noam mit zwei kleinen Adlern im Garten spielen. Da kamen Enea die Tränen und auch Noam lief sogleich auf ihr Geschwister zu, umarmte Enea und sagte: «Weine nicht, du bist Enea und ich weiss, dass du gekommen bist, uns zu erlösen.» Da brauste es in den Lüften und ein riesiger Adler kam geflogen: Das war Jascha. «Wir wollen sogleich zu Wisan gehen», sprach der Adler, «und mit Bao zusammen dir sagen, wie du den Drachen bezwingen kannst.» so führten Bär und Adler Enea zum Schlosse von Bao und Wisan. Als sie ankamen, stand Wisan am Ufer und spielte mit zwei schimmernden Goldfischlein und krümelte ihnen Brot ins Wasser. Und wieder schossen Enea Tränen in die Augen. «Nicht lange mehr werden wir traurig sein, Enea», sagte Wisan und herzte und küsste Enea, «weine nicht und sei ohne Furcht, ich weiss, dass du gekommen bist, uns zu erlösen.» Da wogte der See und die Wellen schlugen ans Ufer und aus dem Wasser tauchte ein riesiger Fisch auf und sprach: «Ich weiss, du bist Enea. Wir wollen dir sagen, wie du den Drachen überwinden kannst.» Zuerst sprach der Bär: «Wenn du jetzt auf das Schloss kommst und der Drache auf dich zustürzt und dich zerreissen will, so kämpfe mutig. Wenn er dir nahe ist, dann nimm schnell diese drei Haare, die ich dir gebe und reibe sie aufeinander und es wird dir ein grosser Bär zu Hilfe kommen!» Dann sagte der Adler: «Pass auf! Wenn du ihm den letzten Kopf abgehauen hast, wird aus seinem Leib ein Vogel fliegen. Dann nimmst du die Federn, die ich dir gebe, reibst sie aneinander, so wird dir ein Adler zu Hilfe kommen.» Zum Schluss sprach der Fisch: «Wenn du den Vogel getötet hast, so wird er ein Ei fallen lassen, mitten in einen See. In dem Ei aber ist der Schlüssel verborgen. Dann nimm die drei Schuppen, die ich dir gebe; sobald du sie aufeinander reibst, wird dir Hilfe gebracht werden.»

 

Darauf nahm Enea Abschied von Wisan, Yuki, Jascha und Bao und machte sich auf den Weg zum goldenen Drachenschloss. Als Enea vor dem Tore angelangt war, ertönte ein Brüllen und Brausen und schon kam der gewaltige Drache auf Enea zu. Der hatte wirklich sieben Köpfe und aus jedem der sieben Mäuler kam ein feuriger Schaum. Da griff Enea zum Schwert und tat einen gewaltigen Hieb mit beiden Händen und schlug dem Drachen den ersten Kopf ab. Jetzt aber erhoben sich die anderen sechs Köpfe und spien Enea feurigen Brodem ins Gesicht. Dann fasste der Drache Enea mit seinen Krallen und schleuderte Enea zu Boden. Aber Enea sprang schnell auf und hieb so gewaltig auf den zweiten Kopf des Drachen ein, dass er zu Boden rollte. Der Drache sprang sogleich wieder auf Enea zu und spie Feuer ins Gesicht, dass Enea glaubte, dass letzte Stündlein hätte geschlagen. Nun rangen sie miteinander, doch als Enea den Arm frei bekam, schlug das Schwert dem Drachen den dritten Kopf ab. Der Drache brüllte und schrie, dass es in den Felsen hallte, aber Enea sprang schnell hinzu und der vierte Kopf rollte zur Erde. Von neuem erhob sich der Drache und ging auf den Kämpfenden los, aber Enea fiel ermattet zu Boden und konnte sich nicht mehr erheben. Mit einem Mal sprangen die Geschenke von Yuki, Jascha und Bao in die Gedanken und da rieb Enea schnell die Haare des Bären aufeinander und im selben Augenblick sass ein gewaltiger Bär dem Drachen im Nacken und riss den fünften Kopf ab. Das Untier wand sich und schrie so, dass man es in dem ganzen grossen Walde hörte. Enea aber stand auf und hieb mit letzter Kraft dem Drachen das sechste und siebte Haupt vom Leibe. Da krachte und donnerte es, wie wenn viele Kanonen auf einmal losgefeuert hätten, der Bauch des Drachen zerbarst und ein grosser Vogel flog heraus und hob sich in die Luft. Sogleich rieb Enea die drei Federn des Adlers fest aneinander. Schon stiess ein Adler auf den grossen Vogel herunter, fasste ihn über dem See und riss ihn in Stücke. Aber der böse Vogel liess schnell ein Ei in den See fallen. Das verschwand in den Fluten. Da erinnerte sich Enea an den Rat des Fisches, rieb die drei silbernen Schuppen aufeinander und nicht lange, da tauchte ein Fisch aus dem See und spie das Ei ans Ufer. Dort brach es in Stücke und es fiel ein goldener Schlüssel heraus. Kaum hatte Enea den Schlüssel vom Boden aufgenommen, da standen auf einmal Bär, Adler und Fisch als echte Menschen da; Yuki, Jascha und Bao weinten vor Freude und dankten Enea von Herzen, erlöst zu sein.

 

Dann gingen sie zum Schlosse des Drachen und als Enea den Schlüssel in das Tor geschoben hatte, sprang es von selbst auf und Sol, wunderschön und prächtig wie kein anderer Mensch, stand vor ihnen. Sol ging auf sie zu und küsste Enea auf die Stirne und sagte: «Du hast auch mich erlöst, denn ich war im Turm des Drachen gefangen, solange meine drei Geschwister ihre rechte Gestalt verloren hatten.» Sol führte nun alle in Freude und Glück ins Schloss und zeigte ihnen viele Zimmer mit Silber und Gold und die Gewölbe voll von köstlichen Edelsteinen. «Dies alles gehört uns», sagte Sol, «wenn du mich haben willst.» Das wollte Enea gerne und sie herzten und küssten sich und gelobten einander die Treue.

 

 

Dann zogen sie alle zu den Schwestern zurück und sie fanden sie glücklich und in Freuden und auch die kleinen Bären, die Adlerjungen und die Fischlein waren wieder Menschenkinder geworden und sprangen ihnen entgegen. Nachdem sie sich aber ihre Geschichte erzählt hatten, wollten Enea, Hale, Noam und Wisan zu Fulke und Zenz zurück, die sie so lange nicht gesehen hatten. Sie nahmen all ihr Gesinde mit und viel Geld und Gut und zogen der Heimat zu. Als sie bei Fulke und Zenz ankamen, da war so grosse Freude, dass man es nicht beschreiben kann und ein Fest wurde gefeiert und ein Wiedersehen und dies wollte kein Ende nehmen. Sie lebten noch glücklich auf dem Schloss und auch Fulke und Zenz waren nun aller Sorge ledig.

 

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