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Die verwunschene Gestalt

Es war einmal eine arme Familie, Fran und Ive, die mit Holz hacken ihr weniges Geld verdiente. Fran ging jeden Tag mit der Axt und einem Stück trockenem Brot, in den Wald hinaus. Dass Brot ass Fran nur, wenn grosser Hunger aufkam. Eines Tages bei der schweren Arbeit im Walde, sah Fran auf einmal eine wunderschöne Kutsche, mit vier schneeweissen Pferden davor, auf sich zu fahren. Als die Kutsche ganz nahe heran gefahren war, blieben die Pferde plötzlich stehen und eine grosse, verhüllte, schwarze Gestalt stieg heraus. «Du brauchst dich nicht zu fürchten, Fran», sagte die schwarze Gestalt, «Ich will dir nur etwas sagen; Übers Jahr wird Ive ein Kind bekommen. Dass müsst ihr mir, wenn es zwanzig Jahre alt geworden ist, ein ganzes Jahr in meine Dienste geben. Es wird ihm kein Haar gekrümmt, solange es bei mir ist und es wird dann reich wieder zu euch kommen. Euch aber will ich, wenn ihr mir dies alles versprichst, eine grosse Kiste voll goldener Dukaten schenken, sobald ich euer Kind hole.» Fran hörte dies und war auch gleich mit dem Vorschlag einverstanden. Die Gestalt stieg wieder in die Kutsche ein und ehe sich Fran umsah, waren Gestalt und Kutsche verschwunden. Sogleich ging Fran nach Hause und erzählte Ive alles, was geschehen war. «Wir wollen einmal abwarten, ob das wahr wird, was die Gestalt erzählt hat», sagte Ive. Und wirklich, als ein Jahr vorüber war, bekam Ive ein Kind, das sie Pema nannten.

 

Schnell waren die zwanzig Jahre vergangen und es kam der Tag, an dem die Gestalt Pema holen wollte. «Jetzt wollen wir ja sehen, ob das auch wahr ist», sagte Ive. Aber kaum ausgesprochen, da hörten sie schon die Pferde vorfahren und es stand dieselbe schöne Kutsche vor der Hütte, welche Fran im Walde gesehen hatte. Die Tür ging auf und dieselbe grosse, verhüllte, schwarze Gestalt stieg heraus. Sie brachte eine grosse Kiste voll lauter glänzender Goldstücke mit, genau wie sie damals versprochen hatte. Pema aber musste einsteigen und sie fuhren so schnell davon, wie sie gekommen waren.

 

Im neuen Heim angekommen war, bekam Pema zu essen und zu trinken und alles was man sich wünschen konnte. Abends wurde Pema in ein Zimmer geführt, darin standen zwei weisse, weiche Betten. Davon durfte sich Pema eines aussuchen zum Schlafen.

So lebte Pema glücklich im neuen Heim, bis ein halbes Jahr um war. Da überkam Pema auf einmal grosses Heimweh nach Ive und Fran und bat um Urlaub. Darüber wurde die Gestalt sehr traurig, aber weil Pema so inständig darum bat, konnte sie es schliesslich nicht mehr abschlagen. Und so liess sie Pema für sieben Tage zu Ive und Fran ziehen.

 

Zuhause musste Pema alles erzählen, was geschehen war. Ive wollte aber zu gerne wissen, wer in dem anderen Bette im Schlafgemach schlief. Pema aber hatte weder abends noch morgens jemals jemanden gesehen und konnte es nicht sagen. Ive gab ihrem Kinde eine Kerze und ein Feuerzeug mit; damit sollte Pema mitten in der Nacht Licht machen und schauen, ob jemand im Bette schliefe.

 

Als die sieben Tage um waren, ging Pema wieder zur grossen, verhüllten, schwarzen Gestalt zurück und verbarg Kerze und Feuerzeug unter den Kissen. In der Nacht erwacht, dachte Pema an das, was Ive geraten hatte. Stand heimlich auf, machte Licht und trat an das andere Bett. Da sah Pema wirklich jemanden schlafen, eine wunderschöne, strahlende Gestalt, wie sie noch niemand gesehen hatte. Aber als Pema diese näher betrachten wollte, tropfte ein Wachstropfen auf ihre Brust und sie erwachte. Sogleich wurde sie wieder zur grossen schwarzen Gestalt und als sie Pema mit der Kerze sah, weinte sie bitterlich: «Du hast mich verraten», sagte sie, «und nun muss ich so bleiben mein Leben lang. Jetzt musst du von mir gehen. Damit du dich aber nicht fürchtest im dunklen Walde, will ich dir ein langes Messer geben, das wird dich schützen.» Sie geleitete Pema noch bis zum Tore, dort nahmen sie traurig Abschied voneinander. Als Pema wenige Schritte gegangen war, kamen ein Tiger und ein Löwe angesprungen und wollten Pema auffressen. Da erschall plötzlich der Ruf der schwarzen Gestalt hinter ihnen: «Lasst ab!» und sogleich waren die Tiere ruhig und liessen Pema ziehen.

 

Pema zog weiter, bis in einer Schlucht drei wilde Tiere beisammen waren, die riefen: «Komm her und hilf uns!» Pema fürchtete sich sehr, aber dachte: «Gehe ich nicht hin, werde ich von ihnen erjagt und gefressen, so kann mir, wenn ich gehorche, auch nichts Schlimmeres geschehen.» Pema ging also hin und erblickte ein totes Kalb am Boden liegen, davor standen ein Adler, ein Löwe und ein Wolf. «Du musst uns das Kalb teilen», sagten sie, «denn wir können nicht einig werden.» Pema dachte bei sich: «Der Adler pickt gerne das Mark aus den Knochen, der Löwe frisst gerne das schiere Fleisch und der Wolf schleckt gerne Knorpel und Knochen.» So erhielten alle also das ihrige. Die Tiere waren zufrieden und wollten, weil Pema so gut geteilt hatte, eine Belohnung geben. «Reiss mir drei Federn aus und stecke sie zu dir», sagte der Adler, «wenn du dir einmal wünschst, ein Adler zu sein, so sollst du’s werden.» Da sagte der Löwe: «Nimm drei Haare von meinem Fell und so du einmal ein Löwe sein willst, so sollst du’s werden.» Auch der Wolf liess drei Haare aus seinem Fell ziehen und versprach: «Wenn du einmal ein Wolf werden willst, so soll es sein.»

 

 

Pema verabschiedete sich nun von den drei Tieren und zog weiter. Als eine Strecke Weges gewandert war, wollte Pema versuchen, ob die Tiere wahr gesprochen hätten. Gerade aus dem Walde gekommen und einen Hasen erblickend, wünschte Pema sich ein Löwe zu sein. Sogleich in einen Löwen verwandelt, lief Pema dem Hasen nach und fing ihn. Mit einem Messer den Bauch aufgeschnitten, aber kaum ein Schnitt getan, flog aus dem Leib des Hasen eine weisse Taube heraus. «Nun will ich ein Adler werden», und schon flog Pema, in einen Adler verwandelt, der Taube nach und hatte sie sogleich auch gefangen. Im selben Augenblick fiel aus der Taube ein schneeweisses Ei. Da nahm Pema das Ei und flog mit ihm über den Wald, bis zum Heim der schwarzen Gestalt. Dort standen die Fenster offen, Pema flog hinein und nahm wieder Menschengestalt an. Plötzlich erklangen Schritte und die grosse, schwarze verhüllte Gestalt trat ein. Erschrocken warf Pema das schneeweisse Ei auf die Gestalt. Da krachte und polterte es im ganzen Hause und auf einmal stand die wunderschöne, anmutige Gestalt, die im anderen Bette geschlafen hatte, vor Pema. «Du hast mich erlöst», sagte sie, und alles was mein ist, soll dein sein.» Da holten sie Ive und Fran zu sich und lebten glücklich bis an ihr Lebensende.

 

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